AUF DEINEM MOND EIN FEIGENBAUM

Viele der schmerzhaften Dinge im Leben sind mit einem Gefühl des Abschieds verbunden. Eine Liebesbeziehung, die zerbricht, ein Lebensabschnitt, der zu Ende geht oder der Tod eines nahestehenden Menschen. Manchmal ist es ein schleichender Prozess, manchmal geschieht es völlig unerwartet. Fast immer aber empfinden wir das Abschiednehmen als eine Art Zäsur, als tiefen Lebenseinschnitt, mit dessen weitreichenden Folgen man bisweilen Jahre zu kämpfen hat. Oft stehen wir da und blicken fassungslos ins Leere, fragen uns, wie es sein kann, dass etwas einfach aus den Federn kriecht und geht, obwohl man es doch gerade noch im Arm hielt.

 

Auch ich tat mich lange Zeit schwer mit dem Verabschieden. Meist verfuhr ich dabei getreu der alten Pflasterdevise, dass einmal kurzes Reißen grundsätzlich besser ist als langsames Ziehen. Ich glaubte offenbar mein Herz auf diese Weise vor übermäßiger Beanspruchung zu schützen. Schon gar nicht wollte ich zu einer dieser am Bahnsteig stehenden Heulsusen mutieren, die sich inmitten von Trolleys und Trennungs-Zelebrierern an intimen Momenten versuchten. Immerhin schleppte ich mich mit dieser stringenten Haltung bis weit ins Erwachsenenalter, auch wenn ich dafür größtenteils in Wüsten übernachten musste. Irgendwann aber beschlich mich das Gefühl, dass an meiner Strategie womöglich etwas falsch sein könnte. Zunächst war es eher ein Unwohlsein, ein sich steigerndes Zweifeln. Ich fragte mich, ob die Kunst des Lebewohlsagens tatsächlich darin besteht, permanent verbrannte Erde zu hinterlassen oder jedes Gefühl von Traurigkeit zu eliminieren, zumal es mir trotz beharrlichem Pflasterreißens nie gelang, mich wirklich frei zu fühlen. War mein akribisch betriebenes Seelen-Peeling in Wirklichkeit vielleicht doch nur eine abgewandelte Form des Festhaltens?

 

Als ich meine beiden Protagonisten, Matilda und Jan, vor fast zehn Jahren in die Senesi-Wüste schickte, um den Spuren Carmelas zu folgen, hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass ich mich selber damit auf den Weg machte, mein eigenes Loslassen zu ergründen. Zu Beginn stand lediglich die vage Idee eine Art Roadmovie in Buchform zu verfassen und die Eindrücke meiner zuvor unternommenen Reise durch die Toskana festzuhalten – jene so einzigartige und atemberaubende Region im Herzen Italiens, deren malerischer Schönheit ich gleich beim ersten Mal erlag und die sich mir wie kaum eine andere in die Sinne einbrannte. Nur langsam gestaltete sich die eigentliche Geschichte. Dabei war mir zunächst mehr an der Beschreibung der Kulisse gelegen, als dass ich den Figuren größeren Raum zur Entfaltung gab. Zwischenzeitlich legte ich das Buch immer wieder zu Seite, um mich Projekten zu widmen, deren Vollendung mir vorerst dringlicher erschien.

 

Für gewöhnlich holte ich es dann wieder hervor, wenn sich in meinem Leben etwas ereignete, das im weitesten Sinne etwas mit Loslassen oder Abschiednehmen zu tun hatte. Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass sich in den folgenden zehn Jahren eine ganze Armada an Liebgewonnenem aus meinem Leben schleichen sollte. Um ein Haar wäre ich sogar selber weggespült worden, sodass ich gar nicht umhin kam, die bereits begonnene Auseinandersetzung mit diesem Thema zu intensivieren.

 

Das vorliegende Buch ist gewissermaßen eine Aufarbeitung dieser Ereignisse. Natürlich ist es immer noch ein Roman, ein fiktiver Bericht über eine fast schon zerbrochene Vater-Tochter-Beziehung, die sich plötzlich in einer veränderten Wirklichkeit wiederfindet und neu auszurichten versucht. Dennoch steckt in den allermeisten Zeilen auch eine Menge Persönliches. Durch meine Protagonisten verschaffte ich mir eine Reflexionsebene, die es mir nicht nur ermöglichte, mit meinen eigenen Mustern und Handlungsweisen in Kontakt zu treten, sondern auch die sich parallel vollziehenden Lebensbrüche besser zu verarbeiten.

 

Immer wieder schickte ich meine Helden auf die Reise, um sich im Loslassen zu üben und sich den essenziellen Lebensfragen zu stellen. Dabei beschränkte ich mich weitestgehend auf die Rolle des Beobachters. Eifrig protokollierte ich alles, was sie an Erkenntnissen zu Tage förderten. Es war viel Kostbares dabei, vieles, was mir half, die eigene Sichtweise zu verändern und mich neu zu justieren. Insbesondere wurde mir bewusst, dass ich bislang eine wichtige Komponente des Verabschiedens übersehen hatte. Jahrelang verknüpfte ich damit nur negative Aspekte. Doch das ist eben nur die halbe Wahrheit. Fast immer findet sich im Abschiednehmen auch ein Neuanfang, ein Abenteuer, möglicherweise sogar eine Befreiung oder der Ausweg aus einer verfahrenen Situation. Insofern beinhaltet Abschied immer beides: Etwas weicht, damit etwas Neues an seine Stelle treten kann.

 

Man könnte sich in diesem Zusammenhang ganz grundsätzlich fragen, inwieweit die in unseren materialistischen Systemen verankerte Sammel- und Bewahrungsleidenschaft zum Glücklichsein verhilft. Vielleicht sollten wir uns wieder mehr darauf besinnen, dem Fluss beim Fließen zuzusehen. Wenn man sich von dem Gedanken trennt, etwas für immer behalten zu wollen, wird man es schließlich auch nicht irgendwann verabschieden müssen. Ich glaube ohnehin nicht, dass es gelingt, etwas, das gehen will, aufzuhalten. Insofern passt der Vergleich mit dem Fluss ganz gut. Natürlich könnte man versuchen, ihn aufzuhalten. Soweit ich mich erinnere, sind Unternehmungen dieser Art jedoch fast immer schief gegangen. Und so erfreue mich lieber an seinem Treiben.

 

Überhaupt bin ich, was das Verabschieden betrifft, mittlerweile ganz zufrieden mit mir. Auf brachiales Pflasterreißen kann ich jedenfalls inzwischen verzichten. Sogar Bahnhöfe haben für mich ihren Schrecken verloren. Mittlerweile ist auch zu mir durchgedrungen, dass dort nicht nur Züge abfahren, sondern auch welche ankommen. 

 

In diesem Sinne hoffe ich, dass Ihnen mein kleiner Roman gefällt und verbleibe mit den besten Wünschen für 2019.

 

Felix Söring im Januar 2019